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Exakt 1226 Drogentote, so viel zählt das Bundeskriminalamt diesmal. Doch Franks Name würde, wenn es eine Opferliste gäbe, sicher fehlen. Ein Jahr davor, 2014, waren es noch fast zwanzig Prozent weniger. Auch da würde ein Name in der Statistik fehlen: Christoph, Freitod mit dreißig Jahren, hatte sich im Sommer die Pulsadern aufgeschnitten. Frank, sein vier Jahre älterer Bruder, erhängte sich zehn Monate später.
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In Ochtrup hatte die Familie alles, um ihren zwei Söhnen und zwei Töchtern einen perfekten Start ins Leben zu bieten. Er, Geschäftsführer in einem Münchener Versicherungsweltkonzern, Chef von mehr als siebenhundert Dienstleistern; seine Frau, Antonia Hillejan, Allgemeinärztin und Psychotherapeutin. Keine zwanzig Kilometer ist es von hier, der ruhigen Kleinstadt nicht weit von Münster, bis zur niederländischen Grenze. „Wir leben in einer cannabisverseuchten Region“, sagt er, jede Schule im Umkreis werde bestens versorgt aus dem Nachbarland.
Rauschmittel aus Cannabis, der Hanfpflanze, zählen ebenso wie die getrockneten Blätter, das Marihuana, und der aus dem Pflanzenharz hergestellte Haschisch zu den illegalen Drogen. Doch was bedeutet das schon? Die Drogenbeauftragte rechnete vor: 2,4 Millionen im Land sollen 2013 Cannabis konsumiert haben, 220 000 von ihnen gelten als abhängig. Mindestens eine halbe Million vorwiegend junger Leute, so gehen die Hochrechnungen weiter, habe „Probleme“ mit dem Cannabiskonsum, klage also über psychische und/oder körperliche Schäden. Die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung hat im Vorjahr ermittelt: 17,7 Prozent der 18- bis 25-Jährigen haben mindestens einmal Cannabis konsumiert, vor sieben Jahren waren es noch 11,6 Prozent.
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Von einem „normalen, unauffälligen Cannabis-Konsum“ ihrer Söhne war auch Antonia Hillejan, die Ärztin, ausgegangen. Christoph und Frank, und auch ihre größere Schwester, hatten ein Vorbild. „Nur drei- oder viermal habe ich früher Marihuana genommen, und ich habe natürlich auch mit den Jungs darüber geredet“, sagt sie. Aber im Traum wäre ihnen nicht in den Sinn gekommen, welche Drogenkarriere die beiden da schon hinter sich und welchen hohen Preis beide dafür zu zahlen hatten. „Wenn der Staat zum Dealer wird, steht er in der Beweispflicht, dass er die Probleme und Risiken in den Griff bekommt“, attackiert Bierbaum-Hillejan die Politik, die über ausfallende Steuereinnahmen ohne Legalisierung klagt. „Die Opferdiskussion klammern die aus.“ Der Dissens im Hause Hillejan um die Drogenpolitik hat schon zum Ehestreit geführt, spiegelt aber das politische Theater um die Cannabis-Freigabe gut wider: „Er hat die Droge immer verteufelt, ich bagatellisiert“, sagt sie, „die Wahrheit liegt wohl irgendwo dazwischen.“ Sie erhofft sich mehr Kontrolle und sauberere Drogen, hält einen „Schlag gegen das organisierte Verbrechen“ für möglich und die „Chance, die Jugendlichen bewusster an das Zeug heranzuführen“. Er, der Ökonom, zweifelt an der Kontrollkompetenz von Beamten und Cannabis-Agenturen, „wenn die den ganzen Tag hinter dem Schreibtisch sitzen“, und führt seine Erfahrungen als Vertriebsspezialist ins Feld: „Es ist ganz einfach: Je mehr Vertriebspunkte es im Land gibt, desto mehr wird gekauft. Cannabis ist ein Impulsprodukt wie andere auch.“
Als Frank, der ältere Sohn, sich den Cannabis-Markt an der Schule und auf Ausflügen über die Grenze erschloss, hatte der den Drogenmarkt schnell verstanden, doch seine Fähigkeit, mit anderen Menschen umzugehen, zusehends verloren. „Soziale Phobie“, sagt sein Vater resigniert, seine Abkapselung und Impulsivität belastete die Familie immer mehr. Frank litt am Aufmerksamkeitsdefizit-Syndrom ADHS, schluckte wie seine Mutter und seine Schwester Ritalin, die Wechselwirkung mit den Drogen ist unklar. Frank schleppte sich mit Drogenbegleitung zum Abitur, „es blieb ein Loch in der Persönlichkeitsentwicklung von zehn Jahren“, klagt der Vater. Vier Jahre Pause nach dem Abi, er blieb zu Hause, die Ausbildung zum Systemelektroniker bei der Bahn musste er abbrechen: Impulsdurchbrüche bei nichtigen Anlässen, Teamunfähigkeit, Freundschaften zerbrachen. Eine stationäre Behandlung in der Psychiatrie brachte nichts.
„Klick“ habe es bei ihm erst gemacht, als er am Grab seines Bruders stand, demoralisiert. In der Nähe von Leipzig begann er ein Studium im Facility-Management, war „bienenfleißig“ auf einmal, verliebt, „wie von der Tarantel gestochen“. Letztes Pfingsten sprach dann die Mutter mit ihm über Christoph, warnte vor eigenen Suizidabsichten. „Er wollte sich nicht umbringen, hatte zum ersten Mal im Leben Ziele, strebte eine Familie an.“ Doch dann, Frank hatte seine Antidepressiva ohne ärztliche Begleitung wieder eingenommen, kamen zwei Tage, in denen er sich in seinem Zimmer verschanzte, das Studium plötzlich wie ein unbezwingbarer Berg vor ihm auftauchte. Er rief den Vater an, der riet ihm zum Durchhalten: „Mach noch ein oder zwei leichte Scheine“. Er suchte Halt am Telefon, vergeblich. Ein paar Stunden später war er tot.