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Thema: Autismus und Leiden (http://perfektibilistenorden.de/topic.php?id=5776)


Geschrieben von: PvdL am: 05.11.12, 01:24:36
Autismus und Leiden: Was läßt sich vermeiden?

So oft ist die Rede davon daß er/sie/es an Autismus leide, daß ich mich schon frage, ob sich von denen, die das reden oder schreiben, mal jemand klar gemacht hat, was das bedeutet. Es mutet schon fast an, als werde "an <Krankheit oder alles, was man dafür hält> leiden" als Funktionsverbgefüge verwendet. Ein Funktionsverbgefüge (nachfolgend FVG genannt) ist eine Kombination aus finitem Verb und Substantiv, wobei das Substantiv für die Semantik und das finite Verb für die Grammatik zuständig ist. So zum Beispiel in dem FVG 'Bericht erstatten' oder 'Aufsicht führen'. Mich kommt der Verdacht an, daß für viele Sprecher es genauso ein FVG ist, wenn sie beispielsweise "Herr von der Linden leidet am Asperger-Syndrom" reden oder schreiben. Trotzdem auch oder gerade deswegen hier die Frage: Kann man das nicht vermeiden? Kann man nicht sagen "an Herrn von der Linden wurde das Asperger-Syndrom erkannt" und meietwegen irgendwann anders "seit seiner Diagnose leidet er viel weniger unter Vergleichen mit NTs, weil er weiß, was er an sich hat" oder so etwas in der Art. Generell sollte es jeder für sich selbst entscheiden dürfen, ob und wie viel er leidet, gerade auch dann, wenn es schon zum FVG verkommt, worunter nicht zuletzt die deutsche Sprache leidet. Und die kann sich noch nicht mal wehren. Leider!


Geschrieben von: Hans am: 25.11.12, 11:11:49
Man könnte die Formulierung auch umgehen,
wenn man schreibt: Herr ... ist Autist.

Man/Frau ist Autist und leidet nicht darunter,
sondern wir leiden an der Gesellschaft.

Hier wäre es interessant, eine Formulierung gegen
"an etwas leiden" zu finden.

"Herr ... erfreut sich am Asperger-Syndrom" zwinkern


Geschrieben von: PvdL am: 25.11.12, 13:56:24
Wie wäre es damit?

"Hans erfreut sich des Asperger-Syndroms sowie bester Gesundheit und großer allgemeiner Beliebtheit."


Geschrieben von: 55555 am: 25.11.12, 14:05:57
Die Begrifflichkeit "leiden" ist von Seiten behinderter Gruppen schon länger in der Kritik, so kann man im teils nicht empfehlenswerten "Buch der Begriffe" dies lesen (offensichtlich noch ohne jedes Verständnis für das soziale Behinderungsmodell):
Zitat:
... an einer Behinderung leiden
Viele Menschen mit Behinderungen [Laut Forenregeln diskriminierender Begriff] sind mit dieser Formulierung
nicht glücklich, weil sie einerseits Armut und Leid suggeriert und
dadurch -> Mitleid (S. 122) hervorruft, andererseits „leiden“ die
wenigsten behinderten Menschen tatsächlich an ihrer Behin-
derung. Meist macht ihnen die Umwelt das Leben schwer. Schon
alleine aufgrund der Objektivität sollte diese Phrase vermieden
werden, da nur behinderte Personen selbst wissen, ob sie tatsäch-
lich an ihrer Behinderung „leiden“ oder nicht. Besser ist es neu-
tral festzustellen, dass jemand „eine Behinderung hat“ oder „mit
einer Behinderung lebt“.


Geschrieben von: PvdL am: 25.11.12, 15:16:34
Ob man wegen einer physiognomischen oder physiologischen Normabweichung behindert wird oder nicht, hängt zudem von der Integrität einer Gesellschaft ab, deren Werte nicht nur oberflächlich oder kurzfristig gewählt wurden.