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Als die Veranstaltung beginnt, sind einige Stühle noch frei. Konstantin und Kornelius Keulen, beide 26, setzen sich dennoch auf den Fußboden. Konstantin blickt aus dem Fenster, Kornelius pickt mit dem Zeigefinger Krümel auf. Es sieht nicht so aus, als würden sie dem Referat über die kunsthistorischen Besonderheiten von Schloss Sanssouci folgen. Doch der Eindruck täuscht.
Die eineiigen Zwillinge sind Autisten. Seit sechseinhalb Jahren studieren sie an der Universität Potsdam Geschichte und Philosophie, mittlerweile arbeiten sie an ihren Magisterarbeiten zum Begriff der Zeit in der modernen Philosophie. Konstantin und Kornelius sprechen kaum, blicken anderen Menschen nur selten direkt in die Augen. Aber sie verblüffen Kommilitonen und Professoren immer wieder mit ihrem eigenwilligen, hochphilosophischen Denken.
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Die Zwillinge besuchten im Sommersemester 2005 das erste Mal ein Seminar bei ihm. Sie saßen stumm da, manchmal lagen sie auch auf dem Boden, als ob sie schliefen, sagt Petsche. Er habe nicht recht gewusst, wie er mit ihnen umgehen solle, und habe sie daher einfach mitlaufen lassen. Eine Kommunikation mit ihnen schien nicht möglich. Bis er sich in einer Stunde beklagte, dass beim vergangenen Mal so viele Studenten unentschuldigt gefehlt hätten. Kurz darauf bekam er eine E-Mail, in der sich die Zwillinge höflich für ihr Fernbleiben entschuldigten. Angehängt war das Gedicht, mehrere Seiten lang. In Versen diskutierten sie darin Fragen des Seminars.
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Der Einbruch von Unvorhersehbarem sorgt bei ihnen für extremen Stress. Viele Autisten haben deshalb Ticks oder feste Rituale, an denen sie sich in schwierigen Situationen orientieren können. Kornelius etwa sammelt Zugfahrpläne, ein paar davon hat er in der Hosentasche. Manchmal trägt er auch eine Wäscheklammer mit sich herum, klemmt sie überallhin. Ein kleiner Anker, an dem er sich in unübersichtlichen Situationen festhalten kann. Konstantin legt seinem Bruder oft die Hand auf den Hinterkopf oder auf die Schultern, der Kontakt beruhigt ihn. Manchmal – wenn ihnen das Gewusel der Kommilitonen auf den Gängen zu viel wird oder ein Geräusch sie stört – stehen die Zwillinge im Hof der Uni und halten sich die Ohren zu. Danach setzen sie sich wieder auf die Stufen am Eingang und warten auf die nächste Vorlesung.
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Konstantin und Kornelius kommunizieren nur schriftlich. E-Mails, Referate, Hausarbeiten tippen die Zwillinge auf dem Laptop. Sie schreiben die Substantive klein, bilden lange, kunstvoll ausformulierte Sätze in einer eigenwilligen Sprache, oft durchsetzt mit Wörtern aus vergangenen Jahrhunderten. Wenn sie mündlich geprüft werden sollen, lesen die Professoren ihre Antworten vom Computerbildschirm ab.