So grundsätzlich finde ich es schon richtig, auch Stärken und Fähigkeiten anzuerkennen und die Sache auch mal herumzudrehen und zu überlegen, wie behindert NT's denn sind, wenn man sie an AS-Maßstäben misst. Da diese Position hier im Forum schon reichlich vertreten ist, möchte ich mal was anderes zu Bedenken geben: Viele Autisten sind tatsächlich auf Hilfe angewiesen. Wer sich aufgrund einer AS-Diagnose nicht als schwerbehindert einstufen lassen möchte, braucht das nicht zu tun. Für die meisten Kanner-Autisten stellt sich die Frage vermutlich erst gar nicht.
Deshalb empfehle ich, auf Wikipedia nicht nur das zum Thema Rasse zu lesen, sondern v.a. das zum Thema
Behinderung.
Ein paar Highlights daraus:
Definitionen:
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"Im bundesdeutschen Recht wird die Behinderung im Sozialgesetzbuch IX (dort: § 2 Abs. 1), so festgelegt: Menschen sind behindert, wenn ihre körperliche Funktion, geistige Fähigkeit oder seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweichen und daher ihre Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist. Sie sind von Behinderung bedroht, wenn die Beeinträchtigung zu erwarten ist." (darauf bezog sich M666)
"1980 entwickelte die WHO mit dem ICIDH (...) ein Klassifikationsschema von Krankheiten und Behinderung. Dabei wird zwischen Impairment, Disability und Handicap unterschieden. 1999 wurde dieses Schema im ICIDH-2 (...) verändert und erweitert.
Hierbei sind nicht mehr die Defizite einer Person maßgeblich, sondern die persönlichen Fähigkeiten und die soziale Teilhabe."
ICIDH-2 (1999):
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Impairments: Beeinträchtigung einer Körperfunktion oder -struktur im Sinn einer wesentlichen Abweichung oder eines Verlustes
Activity: Möglichkeiten der Aktivität eines Menschen, eine persönlichen Verwirklichung zu erreichen
Participation: Maß der Teilhabe an öffentlichen, gesellschaftlichen, kulturellen Aufgaben, Angelegenheiten und Errungenschaften
Kontextfaktoren: physikalische, soziale und einstellungsbezogene Umwelt, in der ein Mensch das eigene Leben gestaltet
Behinderte haben Rechte:
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"Durch die neuere Gesetzgebung ist die Gesellschaft aufgefordert, Strukturen zur Unterstützung von
Menschen mit Behinderung [Laut Forenregeln diskriminierender Begriff] zu schaffen. In Deutschland findet dies Ausdruck in Artikel 3 Abs. 3 Satz 2 des Grundgesetzes: ''Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden''."
"Konzepte, Maßnahmen und Einrichtungen der Behindertenhilfe setzen schon bei Kleinkindern (Frühförderung) an und gehen weiter über verschiedene Maßnahmen für Kinder und Jugendliche, insbesondere in den Fachgebieten der Sonderpädagogik und der Heilpädagogik. Auch für Erwachsene existieren Leistungsansprüche und Hilfsangebote im Bereich der Eingliederungshilfe im Alltag, im Beruf sowie im Bereich der medizinischen Rehabilitation."
Durch den Einsatz engagierter Menschen aus der "Krüppelbewegung" und solidarischer Helfer gibt es mittlerweile auch Hilfsangebote, die explizit auf ein selbstbestimmtes Leben abzielen:
"In den Folgejahren entstanden neue soziale Initiativen und Modelle zur eigenständigen Organisation von Pflege und Betreuung (unter anderem persönliche Assistenz, persönliches Budget, die Arbeitsassistenz im Beruf, oder die betriebliche Mitbestimmung in den Werkstätten für
Menschen mit Behinderung [Laut Forenregeln diskriminierender Begriff], die heute durch den Werkstattrat ausgeübt wird."
"Seit einigen Jahren zeichnet sich ein Paradigmenwechsel ab. Behinderung wird zunehmend als krisenhaftes Ereignis nicht nur für den Betroffenen, sondern auch für seine Angehörigen und Freunde begriffen (Schuchhardt, 1982). Rehabilitation wird daher auch als Anbahnung eines Lernprozesses gedeutet, an dessen Ende nicht nur die Verarbeitung des Eintritts einer Behinderung durch die Betroffenen erfolgreich gemeistert werden können, sondern auch die Umgebung des Behinderten „behindertengerecht“ für die spezifischen Bedürfnisse und das natürliche „anders Sein“ angepasst würden. Wichtige Leitgedanken sind hier:
* Soziale Teilhabe statt Pflege
* Überlegte Planung statt Barrierenerrichtung
* Achtung und Respekt statt Diskriminierung
* Integrierte Teilhabe statt vorgeburtliche Selektion und gesellschaftlich-institutionelle
Ausgrenzung"
"Ein Prozess der in Deutschland relativ unbeachtet geblieben ist, ist die Entstehung der Umfassenden und Integrativen
Konvention zum Schutz und der Förderung der Rechte und Würde von
Menschen mit Behinderung [Laut Forenregeln diskriminierender Begriff] der Vereinten Nationen. Diese Konvention ist von internationaler Bedeutung und wird einen Einfluss auf die Rechte von
Menschen mit Behinderung [Laut Forenregeln diskriminierender Begriff] in aller Welt haben."
Speziell für Autisten gilt in Europa seit 1996 die
Charta für autistische Menschen
Selbstverständlich muss man damit rechnen, dass diese Charta dem Sachbearbeiter auf dem Arbeitsamt, mit dem man es grade zu tun hat, völlig unbekannt ist. Aber auch Autisten selbst kennen ihre Rechte häufig nicht und sind da oft viel zu pessimistisch und auch wirklich nicht gut in der Lage, ihre Bedürfnisse durchzusetzen, selbst dann nicht, wenn sie über Rechte und Möglichkeiten informiert sind. Da nützt es aber nichts, sich ins "Alien-Sein" zu flüchten... Schön weit wech und natürlich mit einem "Keiner versteht mich".
Welche Rechte haben im Vergleich dazu Angehörige einer fremden Rasse oder Ethnie in Deutschland? Muss ich damit rechnen, dass mir die deutsche Staatsbürgerschaft entzogen wird, wenn ich behaupte, nicht nur nicht zur deutschen Nation zu gehören (wir haben immer noch das ius sanguinis!), sondern einer anderen Unterart anzugehören als Deutsche, Afrikaner und Eskimos alle zusammen? Wird man mich auf den Mond schießen, wenn ich behaupte, ein Alien zu sein?
Unter diesen Gesichtspunkten fällt mir die Entscheidung, ob es sich um eine Behinderung handelt oder um eine andere Sorte, nicht schwer.